Was zeichnet die vorausschauende humanitäre Hilfe im Vergleich zur üblichen humanitären Hilfe aus?
Christof Johnen: Humanitäre Hilfe ist traditionell etwas Reaktives. Wenn es zum Beispiel zu Überschwemmungen kommt, dann helfen wir den notleidenden Menschen mit bedarfsgerechten Hilfsgütern. Mittlerweile können wir aber bestimmte Ereignisse wie Überschwemmungen vorhersehen und in dem Moment greift die vorausschauende humanitäre Hilfe proaktiv ein. Nicht im Sinn der wichtigen Vorsorge durch Hochwasserdämmen und Ähnlichem und aufgrund einer allgemeinen Gefahrenlage, sondern im Sinn von kurzfristiger, sehr direkter Hilfe zum Beispiel durch Bargeldhilfen an betroffene Menschen eines akut bevorstehenden Ereignisses.
Was bringt das für Vorteile mit sich?
Christof Johnen: An der Stelle geht es aus meiner Sicht vor allem um zwei Aspekte: Erstens eine höhere Effizienz, weil ein schnelles und proaktives Handeln kostengünstiger ist und grundsätzlich weniger Schäden entstehen. Zweitens ist das Ganze aber auch im Sinn der Menschenwürde. Wir schauen nicht einfach zu, wie auf Menschen etwas Schlimmes zukommt, sondern es hat etwas mit Würde zu tun, wenn man diesen Personen etwas Konkretes an die Hand gibt, um sich selbst zu helfen und so das Leid zumindest gemindert werden kann.
Wann kommt die vorausschauende humanitäre Hilfe zum Einsatz?
Christof Johnen: Automatisch immer dann, wenn sich eine Krise wie ein Dürre, ein Sturm oder eine Überschwemmung abzeichnet und vorher festgelegte Schwellenwerte zum Beispiel hinsichtlich eines Wasserpegels überschritten werden. In einem vorher definierten Maßnahmenprotokoll sind also bestimmte Schwellenwerte mit spezifischen Aktionen verknüpft, die dann umgehend ergriffen werden. Auch all die Zeit, die sonst verloren ging, Gelder zu beantragen, wird eingespart.
Die Logik des Protokolls ist: Je unsicherer der Eintritt einer Krise noch ist, desto weniger kostenintensive Maßnahmen führt man durch. Das fängt damit an, dass man die Bevölkerung warnt und sie darauf hinweist, Vorkehrungen zu treffen, zum Beispiel indem Vorräte an höher gelegenen Orten gelagert werden. Je wahrscheinlicher es dann zu einem Ereignis kommt, desto kostenintensivere Maßnahmen führen wir dann durch, zum Beispiel durch die zur Verfügungstellung von bestimmten Hilfsgütern oder durch Bargeldhilfen zur Vorratsbeschaffung.
Wo steht das DRK bei dieser Thematik?
Christof Johnen: Das DRK war und ist tatsächlich federführend. Wir haben als Vorreiter vor mehr als einem Jahrzehnt ein Konzept zur vorausschauenden Hilfe entwickelt, wie diese verlässlich funktionieren kann und wann diese zum Einsatz kommen sollte. Damals war die Unterstützung des Auswärtigen Amts entscheidend, wo führende Personen sehr früh die Bedeutung und Relevanz der Thematik verstanden und das Ganze auch mit Mut gefördert haben. Wir haben dann zeitnah auch erste Pilotprojekte in Uganda und Togo erfolgreich durchführen können. Inzwischen arbeiten wir im Kontext der vorausschauenden humanitäre Hilfe als DRK in mehr als 20 Ländern mit Schwestergesellschaften zusammen. Insgesamt arbeiten mehr als 80 Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften mit dieser Methode. Bei uns ist auch der Anticipation Hub beherbergt, ein breit aufgestelltes Forum als Basis für Informationsaustausch, für die Vorstellung neuer Entwicklungen und den Abgleich von Wissenschaft mit den praktischen Erfahrungen bei vorausschauenden humanitären Hilfseinsätzen.
Es gibt vermutlich auch bei der vorausschauenden humanitären Hilfe eine enge Zusammenarbeit mit den nationalen Schwestergesellschaften?
Christof Johnen: Auf jeden Fall, denn durch unsere lokalen Helfenden sind wir sehr nah dran an den Menschen vor Ort. Das heißt, wir bekommen sehr gute Informationen über die Lage und Bedarfe vor Ort und haben dadurch einen Geschwindigkeitsvorteil. Man kann nicht in Berlin oder in Genf oder sonst wo auf der Welt sitzen, um herauszufinden, was zum Beispiel auf einer bestimmten Inselgruppe der Philippinen für Menschen den größten Mehrwert bringt. Durch die lokale Verankerung genießen die Helfenden unserer Schwestergesellschaften zudem großes Vertrauen, was gerade bei Warnungen wichtig ist, sodass die Menschen wirklich darauf hören. Die Herausforderung für viele Schwestergesellschaften ist die, dass sie zwar Vertrauen genießen und dass sie über Kompetenz und zahlreiche Kapazitäten verfügen, aber die finanziellen Mittel in einer Krise fehlen. Diese Herausforderung können wir dann über die Finanzierung durch vorausschauende humanitäre Hilfe überwinden und so als Bewegung weltweit schnell und wirksam helfen.
Wäre die vorausschauende humanitäre Hilfe vor 20 Jahren auch so oder zumindest so ähnlich möglich gewesen?
Christof Johnen: Nein, sicher nicht. Vor 20 Jahren hätte es zum Beispiel Daten-Modelle für verlässliche Langzeitwettervorhersagen nicht gegeben. Dazu kommt noch etwas, was man im Englischen Impact Forecasting (Wirkungsvorhersage) nennt. Das geht deutlich über eine reine Wettervorhersage hinaus, denn eine solche Vorhersage sagt ja zunächst mal nur: Mit dieser Wahrscheinlichkeit wird es in einer bestimmten Region zum Beispiel einen Sturm geben. Das Impact Forecasting kann man sich am besten wie ein Schichtenmodell vorstellen. Über eine Wettervorhersage legt man unter anderem naturräumliche Ebenen. Diese zeigen, ob es sich um eine flache Gegend handelt, wie die Bodenbeschaffenheit und die Besiedlung ist. Auch sozio-ökomische Daten wie Einkommensherkunft und -höhe werden oft hinzugezogen. Es werden also ganz viele Daten im Rahmen des Schichtenmodells genutzt. Das ersetzt natürlich nicht die Betrachtung der konkreten Situation vor Ort, aber das Ganze macht Abschätzungen und vieles andere deutlich einfacher. Konkrete Maßnahmen lassen sich so viel präziser planen.
Wie steht es um die Finanzierung des Ganzen?
Christof Johnen: Bei der vorausschauenden humanitären Hilfe war Deutschland Vorreiter, weil man sich vor einigen Jahren verpflichtet hat, mindestens 5 Prozent des Budgets für humanitäre Hilfe für vorausschauende Hilfe zu verwenden. Das war ein klares Zeichen. Jetzt stecken wir allerdings in einer Situation, in der laut vorläufigem Haushaltsplan 2025 im Vergleich zu 2023 eine Kürzung von rund 75 Prozent droht. Es stellt sich die Frage, ob dann in einer solchen Lage trotzdem noch die 5-Prozent-Verpflichtung gilt. Und selbst wenn, 5 Prozent von wenig ist natürlich viel weniger als das, was eigentlich angesichts der Effizienz von vorausschauender humanitärer Hilfe sinnvoll wäre.
Es ist auch gegenüber Privatspendenden ein schwierigeres Thema. Denn natürlich ist vorausschauende humanitäre Hilfe viel weniger sichtbar. In einer akuten Notsituation schicken wir Hilfsflüge, die Wirkung der Hilfe ist direkt beobachtbar und wird auch häufig medial begleitet, was weitere Aufmerksamkeit erzeugt. Wenn man aber auf das Horn von Afrika im Herbst/Winter 2024 schaut, war die Lage eine andere. Zu dem Zeitpunktbahnte sich eine extreme Dürre an. Wir haben dank zusätzlicher Unterstützung des Auswärtigen Amts unter anderem Wasserstellen leistungsfähiger gemacht, haben in die Impfung von Viehbeständen investiert, um sie widerstandsfähiger zu machen usw. Das hat viele Schäden vermieden, aber das kommt dann in der Regel in keiner Medienmeldung dieser Welt vor. Deshalb ist die Finanzierungsthematik sicher die größte Herausforderung für die vorausschauende humanitäre Hilfe.
Über Anticipation Hub:
Vorausschauende Ansätze der humanitären Hilfe weltweit etablieren: Das ist das Ziel des Anticipation Hubs. Die globale Wissens- und Austauschplattform wird vom Deutschen Roten Kreuz in Kooperation mit der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften und dem Rotkreuz-/Rothalbmond-Klimazentrum mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes organisiert. Sie bündelt Wissen und Erfahrungen und fördert den Austausch und die Zusammenarbeit von Vertreterinnen und Vertretern aus Praxis, Wissenschaft und Politik.
Mehr Infos unter: https://www.anticipation-hub.org/
Das DRK bittet um Spenden:
IBAN: DE63370205000005023307
BIC: BFSWDE33XXX
Stichwort: Internationale Soforthilfe
oder unter drk.de/spenden